GLTH: Was unterscheidet suitcase von anderen Anbietern in diesem Bereich und wie stellt ihr sicher, dass eure Plattform für alle Parteien fair und neutral bleibt?
Tim Kniepkamp: „Mit Suitcase eröffnen wir in Deutschland ein neues Segment am Legal Tech-Markt: Online Dispute Resolution (ODR). Wir unterscheiden uns von den Gerichten, indem es nicht darauf ankommt, wer recht hat. Ich sage gern, wir betrachten einen Rechtsstreit von hinten: Wir suchen eine tragfähige Lösung, die den Konflikt beendet. Von der Anwaltschaft unterscheidet uns, dass wir nicht einseitig rechtlich beraten, sondern beiden Seiten helfen. Anders als Claims Processing Anbietern (Flightright, RightNow) kaufen wir keine Forderungen im Wege der Abtretung. Zu guter Letzt vermitteln wir auch keine (selbstständigen) Partneranwälte wie LegalHero oder Hopkins.
Kurzum: Wir sind wie die Schweiz. Wir bieten den Parteien ein Forum, um ihren Konflikt zu lösen. Und wir bieten das richtige Werkzeug, um mit minimalem Arbeitsaufwand 100 Prozent digital zu einer Einigung zu finden.“
GLTH: Welche monetären Auswirkungen hat eure Lösung für die im Prozess Beteiligten?
Tim Kniepkamp: „Ich bin ein großer Fan von greifbaren Beispielen. Bleiben wir also im Arbeitsrecht bei der Beendigung von Arbeitsverhältnissen. Wenn ein Arbeitnehmer eine Abfindung von 10.000 Euro im Wege eines Gerichtsvergleichs geltend macht, bleiben ihm abzüglich der Anwaltskosten 8.585,09 Euro. Umgekehrt kostet den Arbeitgeber dieser Prozess einschließlich Anwaltsgebühren 11.414,91 Euro. Die Anwälte müssen für die Vergütung i. H. v. jeweils 1.414,91 Euro zwischen drei und fünf Arbeitsstunden aufwenden. Das entspricht einem Stundensatz von 282,98 Euro.
Wenn sich die Parteien außergerichtlich über Suitcase geeinigt hätten, wären dem Arbeitnehmer 9.403,81 Euro geblieben, während es den Arbeitgeber nur 10.596,19 Euro gekostet hätte. Die Anwälte hätten die außergerichtliche Einigungsgebühr (596,19 Euro) mit 30 Minuten Arbeitsaufwand realisiert, was einem Stundensatz von 1.192,38 Euro entspräche.
Wir optimieren also einen hoch ineffizienten Prozess zugunsten aller Beteiligten. Und in diesem Beispiel sind die fünfmal schnellere Verfahrensdauer und der 80 Prozent geringere Arbeitsaufwand noch nicht einmal berücksichtigt.“
GLTH: Was ist eure Vision für die Zukunft? Plant ihr, weitere Rechtsgebiete abzudecken oder neue Funktionen zu integrieren?
Tim Kniepkamp: „Unser Ziel ist es, das Angebot von Suitcase in drei Dimensionen auszubauen: Rechtsfragen, Geografien, Mechanismen. Kurzfristig werden wir die Schlichtung für weitere zivilrechtliche Fragen freischalten. Mittelfristig werden wir den Vorteil unseres Geschäftsmodells heben, dass es nicht an ein Rechtssystem gebunden ist. Langfristig werden wir weitere Formen der außergerichtlichen Streitbeilegung integrieren.
Es überrascht sicher nicht, dass auch maschinelles Lernen eine Rolle spielt. Dabei ist uns wichtig, nicht blind auf den KI-Hype aufzuspringen. Wir schauen uns sehr genau an, wo diese Technologie den Menschen die Nutzung von Suitcase erleichtert. Die Features bleiben stets optional und die Schlichtung final in den Händen der Menschen. Unsere These: Für Menschen (in Deutschland) ist es schon ein großer Schritt, ihre Rechtsstreitigkeiten digital zu lösen. Diese Lösungen müssen komplett technisch nachvollziehbar sein, damit ihnen vertraut wird.“
GLTH: Wie seht ihr die zukünftige Entwicklung der Rechtsbranche in Deutschland? Welche Rolle spielt die Digitalisierung und was müsste sich ändern, um digitale Lösungen wie eure noch stärker zu integrieren?
Tim Kniepkamp: „Da habe ich die letzten paar Jahre viel (schmerzhaft) lernen dürfen. Mein Befund: Es fehlen eine technologieoffene Grundhaltung, eine breite Bekanntheit und Zahlungsbereitschaft unter Juristen, damit die Digitalisierung der Rechtsbranche gelingt.
Zunächst herrscht im deutschen Rechtsmarkt eine enorme, wissenschaftlich belegte Skepsis – ganz generell und besonders gegenüber technischen Lösungen. Das finde ich unglaublich schade. Wir werden bis 2030 in Deutschland effektiv 40 Prozent der Rechtsanwälte in den Ruhestand schicken. Das wird die Ressourcen enorm verknappen. Niemandem wird die Digitalisierung – konkret in der Rechtsbranche – Arbeit wegnehmen. Das Gegenteil ist der Fall: Die maßgeschneiderte Rechtsberatung wird zu einem Luxusgut. Die knappen Ressourcen müssen wir effektiv einsetzen. Wir müssen triagieren: Die breite Masse der Fälle wird sich nur mit technischer Unterstützung bewältigen lassen. Das erfordert von Berufsträgern eine (Technologie-)Offenheit. Und genau die ist Juristen wesensfremd: Wir optimieren darauf, Risiken zu minimieren. Als Gründer wünsche ich mir, dass der erste Impuls nicht Ablehnung, sondern Neugierde ist.
Wir sollten uns auch bewusst sein, dass Legal Tech (noch) eine enorme Blase ist. Da müssen wir raus. Wir müssen für das Vertrauen in der Bevölkerung werben.
In Deutschland ist eine Zertifizierung von Dienstleistungen ein probates Mittel und die fehlt im Legal Tech. Genauso wichtig ist es, Legal Tech in die Anwaltschaft zu tragen. Besonders Einzelanwälte und kleinere Kanzleien würden enorm in der Mandatsbearbeitung entlastet.
Zu guter Letzt spielt die Kaufkraft eine starke Rolle. Unter Gründern gelten Juristen als eine unbeliebte Kundengruppe: Sie haben extrem hohe Ansprüche, wollen aber nur wenig zahlen. Die Konsequenz: Der Rechtsmarkt wird von vielen klugen Gründern gemieden; die Innovationsdichte nimmt ab. Diesen Teufelskreis können wir gemeinsam durchbrechen. Gründer müssen einen hohen Grad an Produktqualität liefern; Juristen müssen im Gegenzug für Pilotprojekte bereitwillig zahlen.“
GLTH: Wie waren die ersten Tage und Wochen für euch, nach dem Gewinn der Pitch Trophy beim German Legal Tech Summit 2024?
Tim Kniepkamp: „Wunderbar! Die Resonanz rund um das Event war sehr gut. Jetzt wollen wir die Aufmerksamkeit der nächsten Monate nutzen, um neue Partnerschaften zu knüpfen.“
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